13.06.2023: 3. Airport Run Graz - Laufbericht
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Zum bereits 5. Mal begrüße ich das Wettkampfjahr mit dem Vulkanland-Frühlingslauf. Und auch heuer macht der Frühlingslauf seinem Namen alle Ehre. Denn die Sonne lacht vom wolkenlosen Himmel und lässt die Temperaturen auf rund 20 Grad Celsius steigen.
Wenn während des aktiven Flugbetriebs auf Teilstrecken der Start- und Landebahn am Grazer Flughafen gelaufen werden darf, sollte man sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Die Tuscany Crossing ist ein Langstreckenlauf mit 103 Kilometer Länge. Laut Streckenprofil weist der Rundkurs in etwa 3.500 positive Höhenmeter auf. Der Großteil dieser Höhenmeter sind auf der zweiten Streckenhälfte zu bewältigen. Insbesondere die beiden Aufstiege zwischen Kilometer 50 und 70 scheinen es in sich zu haben. Das Zeitlimit beträgt 22 Stunden. Um jedoch die Qualifikationsnorm für die Startplatz-Lotterie des Western States 100 (kurz WSER) zu erfüllen, muss man die Ziellinie nach längstens 21 Stunden überqueren.
Die Möglichkeit, sich für eine weitere WSER-Lotterie zu qualifizieren, ist nur einer der Gründe, warum ich hier an den Start gehe. Ein weiterer ist, dass meine Frau und ich die Toskana sehr mögen und wir uns auf die landschaftliche Schönheit, auf das milde Klima, auf die Kultur sowie auf kulinarische Genüsse im Val d'Orcia freuen. Denn dieses Tal zählt zu den schönsten Landschaften Italiens. Endlos weite hügelige Felder, malerische Zypressenalleen, bezaubernde Ortschaften mit Renaissancebauten erfreuen das Auge und die Seele.
Auch dass der Ultra-Trail recht früh im Jahr stattfindet, passt mir gut in die Jahresplanung. So kann ich die über die Wintermonate konservierte Grundlagenausdauer nutzen, um zum einen ein weiteres Ultra-Trail-Laufabenteuer zu erleben und vor allem auch sehr früh im Jahr die Qualifikation für die Startplatz-Lotterie des WSER einzutüten. Sollte ich wider Erwarten scheitern, hätte ich im Verlauf des Jahres noch einige alternative Qualifikationsmöglichkeiten. Aber mit solchen negativen Gedanken beschäftige ich mich grundsätzlich nicht. Denn mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass ich eigentlich nur durch eine akute Verletzung gestoppt werden kann. Die Grundlagenausdauer und vor allem auch die mentale Stärke, um einen 100 Kilometer langen Trail-Lauf ins Ziel zu bringen, ist jedenfalls gegeben.
Neben dem Laufen habe ich vor einigen Jahren auch das Tennisspielen liebgewonnen. Tennis macht nicht nur Spaß, sondern es sorgt der durch die vielen kurzen Seitwärtsbewegungen gewonnene Muskelaufbau rund um das Knie für mehr Stabilität. So beeinträchtigt mich der diagnostizierte Knorpelschaden in den Kniegelenken aktuell nicht sonderlich. Auch das ist ein Grund, warum ich einen ultralangen Wettkampf gerne im Frühjahr laufe. Denn wenn im Verlauf der Sommermonate die Tennis-Meisterschaft zu spielen ist, halte ich es mit der Einhaltung eines Trainingsplans, vor allem aber mit der Regeneration, nicht so genau. Da kann es durchaus passieren, dass es in der Woche keinen Tag gibt, an dem ich nicht in Lauf- oder Tennisschuhen unterwegs bin. Manchmal sogar in beiden.Uns stehen 800 Kilometer Anreise bevor. Ich erwarte mir zwar keine Absolution der Klima-Aktivisten, aber ich halte es zumindest so, dass die Anreise zu einem Laufevent meiner Wahl nicht länger sein darf, als ich für den Lauf selbst benötige. Wenn der Formel "Fahrzeit =/< als Laufzeit" entsprochen wird, dann ist die Fortbewegung für mich quasi co2-neutral. Ich weiß, diese Herangehensweise ist natürlich Quatsch und ich will hier auch keine Klima-Politik betreiben. Diese Rechnung sollte jedenfalls aufgehen, denn der rund 8stündigen Autofahrt steht ein wohl zumindest 14stündiger Lauf gegenüber.
Ich genieße die Autofahrt mit meiner Frau. Wir haben ohnehin viel zu wenig Zweisamkeit. Während wir über Villach und Venedig Richtung Süden fahren, quatschen wir über Gott und die Welt. Nein, eigentlich reden wir über Acryl-Malerei und über das Laufen. An den Städten Bologna und Florenz vorbei, kommen wir unserem Ziel näher. Die Unterkunft liegt ein paar Kilometer außerhalb der Ortschaft Castiglione d'Orcia. Nach knapp 9 Stunden Autofahrt treffen wir endlich ein und beziehen unser schönes Quartier. Das Zimmer ist geräumig und die kleinen Fenster bieten einen schönen Ausblick in die Landschaft. Wir entscheiden uns, im Restaurant vor Ort Abend zu essen und planen bei einer leckeren Mahlzeit den morgigen Sightseeing-Tag.
Nach einem schmackhaften Frühstück fahren wir nach Bagni San Filippo. Die hier entspringende heiße Quelle gilt als das älteste natürliche und von Menschen genutzte Heilbad der Welt. Man vermutet, dass in dieser Quelle bereits die Etrusker und die Römer gebadet haben. Wunderschön ist vor allem der Flusslauf mit den Naturbecken direkt im Wald, wo versinterte weiße Kaskaden für ein fabelhaftes Ambiente sorgen. Mit viel Fantasie kann man im Kalksteingebilde einen weißen Wal erkennen.Im Anschluss bummeln wir durch Pienza. Die Sonne lacht vom Himmel und es ist für diese Jahreszeit überdurchschnittlich warm. Für viele ist das Städtchen Pienza eines der schönsten Orte im Val d'rcia. Dieses historische Juwel, errichtet nach den Idealen der Renaissance, steht heute auf der Liste der UNESCO Weltkulturerbe-Stätten. Faszinierend schön ist die Altstadt mit dem einmaligen Piazzo Pio II und den umliegenden Palästen und Kirchen. Viele romantische Plätze, historische Gebäude und verschiedene Museen warten darauf, bei einem Spaziergang entdeckt zu werden. Sehenswert sind auch das imposante Rathaus oder auch der Palazzo Piccolomini und die atemberaubende Kathedrale Santa Maria Assunta, die eines der wichtigsten Wahrzeichen von Pienza ist. Wir genießen die Sonne, die Aussicht über das Tal und das eine oder andere Getränk. Eine kohlenhydratreiche Kost wäre vermutlich auch nicht ganz verkehrt gewesen. Eine optimale Vorbereitung auf einen Ultra-Trail ist es zwar nicht, aber es sind wunderbar entspannte Stunden, die ich hier mit meiner Frau verbringe.
Es ist Zeit, die Startunterlagen abzuholen. Über schmale, kurvenreiche Straßen fahren wir hoch zum Ortskern von Castiglione d'Orcia. Im Start-/Zielbereich ist alles recht familiär und freundlich. Mein Englisch wird gut verstanden und kurze Zeit später ist das Organisatorische auch schon wieder erledigt.
Mittlerweile knurrt mein Magen, aber irgendwie lässt sich keine geöffnete Pizzeria finden. Schade, denn eine leckere Pizza oder ein Teller Pasta wäre ein für mich passendes Abendessen. Auf der Terrasse einer kleinen Osteria gibt´s dann wenigstens ein paar Portionen Bruschetta.
Wir fahren zur Unterkunft zurück und ich treffe die letzten Vorbereitungen. Die Startnummer wird an das Startnummernband geheftet, die Pflichtausrüstung wird im Rucksack verstaut und die Klamotten bereitgelegt. Die Pflichtausrüstung umfasst einen Liter Wasservorrat, Energieriegel, eine wasserdichte Jacke, ein Erste-Hilfe-Set, eine Trillerpfeife, eine Stirnlampe mit Ersatzbatterien oder Ersatzlampe und ein aufgeladenes Mobiltelefon. Zusätzlich werden Mütze, Handschuhe und Trail-Schuhe empfohlen.
Um 03:50 Uhr holt uns der Wecker unsanft aus dem Schlaf. Das war eine kurze Nacht. Wie es der Veranstalter bei der Ausgabe der Startunterlagen verlangt hat, aktiviere ich bereits jetzt den GPS-Tracker. Ich habe keine Ahnung, warum das Teil eine Stunde vor dem Start eingeschaltet werden muss. Auf jeden Fall ist es kurios zu sehen, wie auf der Landkarte der zugehörigen App immer mehr blinkende Punkte aufscheinen, die sich dann in Richtung Start bewegen.
Ein Hoch auf unseren Unterkunftsgeber! Er serviert uns um 04:15 Uhr ein Frühstück. Für mich besteht diese frühe Mahlzeit aus einem Croissant mit Schokocreme und zwei Tassen Kaffee.
Nach einer rund 10minütigen Autofahrt treffen wir in der Nähe des Startbereichs ein. Es ist noch dunkel und die Luft ist rund 8 Grad Celsius kühl. Laut Wettervorhersage soll es ein meist wolkenloser, frühsommerlich warmer Tag werden. Ich bin voller Vorfreude. Diese wird nur dadurch getrübt, dass sich kein Parkplatz finden lässt. Nach ein paar Minuten erfolgloser Suche eines Abstellplatzes überrede ich meine Frau, mich aussteigen zu lassen und einfach wieder in die Unterkunft zu fahren und noch ein wenig zu schlafen. Was für eine bescheuerte Idee! Kurze Zeit später stehe ich alleine und frustriert im Startbereich, während meine Frau traurig ins Zimmer zurückkehrt.
Unmittelbar vor dem Start gibt es die üblichen Informationen zum Wetter, zur Streckenmarkierung, zum Verhalten auf der Straße etc. in italienischer und englischer Sprache. Endlich geht es los. Die Stirnlampen werden aktiviert und die Startfreigabe ist erteilt. Wir laufen durch schmale Gassen an der Burg Rocca di Tentennano vorbei ins Tal. Rocca di Tentennano wurde bereits im Jahr 1100 urkundlich erwähnt. Die Burg wirkt selbst in der Dunkelheit imposant und ich werde sie im Lauf des Tages aus vielen, vielen Kilometern Entfernung immer wieder zu sehen bekommen. Vom Plateau der Burg bietet sich bei guter Fernsicht ein atemberaubendes Panorama über das Tal und auch auf die Via Francigena genießt man einen privilegierten Blick. 300 Höhenmeter führt uns die Strecke zum Teil sehr steil hinunter ins Orcia-Tal. Dieser erste Abschnitt verleitet dazu, viel zu forsch zu starten. Zudem verlangen gelegentliche Pflastersteinpassagen ein sehr konzentriertes Laufen. Nebel steigt auf und die Morgendämmerung bricht herein. Es herrscht eine wunderbare Stimmung.Bald ist die Talsohle erreicht und der Fluss Orcia muss gequert werden. Früher wurde über einen Steg gelaufen. Dieser ist jedoch seit Jahren baufällig und gesperrt. So muss durch das Wasser gewatet werden. Ein Seil ist gespannt, um sich daran festzuhalten. Einige Teilnehmer ziehen sich die Schuhe und Socken aus. Diesen Luxus gönne ich mir nicht. Es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein, dass die Füße im Verlauf der Tuscany Crossing nass werden.
Endlich wird es hell. Schön, denn ich möchte von dieser Landschaft mehr sehen als was im Lichtkegel meiner Stirnlampe zum Vorschein kommt. Ich erreiche die Ortschaft Bagni Vignoni, das für sein Bad berühmt ist. Die heilsamen Quellen sollen besonders wohltuend bei Haut-, Knochen- und Gelenksbeschwerden wirken. Selbst der berühmte Lorenzo di Medici soll hier seine körperlichen Leiden auskuriert haben.
Pfade und Schotterwege wechseln sich ab. Die Wiesen sind saftig grün. Die Toskana zeigt sich in ihrer schönsten Pracht. Ich fühle mich körperlich gut und genieße es, hier dabei sein zu dürfen. Das von mir eingeschlagene Tempo ist eigentlich zu hoch. Aber wie heißt es so schön: Langsam wird man im Verlauf eines ultralangen Wettkampfes noch früh genug. Die Strecke führt zur Rocca di Vignoni Alto in die Höhe, bevor nach 13 Kilometern die Ortschaft San Quirico d'Orcia erreicht ist. Sehenswert ist die imposante Stadtmauer mit den vielen Türmchen und auch die Kirche Collegiata Santi Quirico e Giulitta aus dem 12. Jahrhundert, die ursprünglich im romanischen Stil errichtet wurde. Dieser traumhafte Ort ist aber auch durch die sogenannten Cipressi di San Quirinco d'Orcia bekannt. Dabei handelt es sich um einen kleinen kreisrunden Zypressen-Wald, der scheinbar inmitten eines Feldes stehengelassen wurde und um einen Zypressnring, durch den ein Feldweg führt. Hier an diesem Ort an der Via Francigena wurde im Mittelalter Federico Barbarossa zum Kaiser gekrönt. Diesem Ereignis zu Ehren findet Jahr für Jahr das Festa del Barbarossa statt.
Apropos Via Francigena: Ich belaufe hier einen mittelalterlichen Pilgerweg, eine Händler- und Heeresstraße. Die Via Francigena führt vom englischen Städtchen Canterbury zu den Gräbern der Apostelfürsten Petrus und Paulus bis nach Rom. Die Route soll erstmals im Jahr 990 von Bischof Sigeric von Canterbury beschrieben worden sein, als er zu einer Investitur den Papst aufsuchte. Die Länge der Via Francigena beträgt ca. 2000 Kilometer und entlang ihres Verlaufes entstanden viele Klöster, Pilgerhospize und Kathedralen. Ich bin von geschichtsträchtigen Strecken angetan und fände es sehr verlockend, die Via Francigena in ihrer vollen Länge laufend zu durchqueren. Aber dazu bräuchte es überdurchschnittlich viel Urlaub und wohl auch einen großzügigen Sponsor. Ich könnte zwar auf meine sehr verständnisvolle Familie zählen, aber solch ein Monsterprojekt ist aktuell nicht umsetzbar. Vielleicht mache ich mich ja im Ruhestand auf, um der Via Francigena von Canterbury nach Rom zu folgen.
Nun erwartet mich ein persönliches Highlight. Der Weg führt uns durch die Ländereien, die durch den Film "The Gladiator" berühmt geworden sind. Das ist einer meiner absoluten Lieblingsfilme und ich habe ihn bestimmt schon ein dutzend Mal gesehen. Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und starte aus der Playlist die dazugehörige Filmmusik, während ich die Campi Elisi entlang laufe. Ich habe Gänsehaut. Der sogenannte Cypresses - Gladiator Point und die kleine Kapelle Madonna di Vitaleta zählen zu den besten Fotospots im gesamten Orcia-Tal.
Pienza ist erreicht. Hier saß ich gestern mit meiner Frau und habe das eine oder andere Glas getrunken. Heute labe ich mich mit Wasser und einem isotonischen Getränk. Grundsätzlich sind die Checkpoints gut platziert. Das angebotene Wasser schmeckt mir jedoch überhaupt nicht. Ich finde, es hat einen sehr unangenehmen Geschmack. Ich denke, es liegt am beigefügten Natrium. Jedenfalls schlägt mir das Wasser auf den Magen und mit jedem weiteren Schluck wird der Ekel darüber größer.Über kupiertes Gelände führt die Strecke weiter nach Monticchiello, einer geschichtsträchtigen Stadt, die für ihr Teatro Povero berühmt wurde. Auf der Via Agogna geht es talwärts. Ein weiteres Mal ist der Fluss Orcia zu durchqueren. Sand und Steine machen das Weiterkommen entlang der Schotterbänke sehr beschwerlich.
Auf den nächsten 10 Kilometern durchlaufe ich auf Wiesenwegen und Schotterstraßen der Landschaft rund um Gallien. Der Streckenverlauf ist recht eben und ich kann weiterhin ein gutes Tempo laufen. Jedoch wäre es ratsamer gewesen, mit den Kräften besser hauszuhalten. Denn schließlich ist das heute kein Marathon, sondern eine über 100 Kilometer lange Laufstrecke.
Und so kommt es, wie es eben kommen musste. Ich habe mit meinen Kräften nicht entsprechend gehaushaltet und so haben mir die letzten Kilometer stark zugesetzt. Meine Kohlenhydratspeicher fühlen sich leer an und ich bin richtig platt. Das sich keine guten Voraussetzungen für die kommenden Stunden. Denn schenkt man der Streckenbeschreibung Glauben, beginnen hier die eigentlichen Herausforderungen der Tuscany Crossing.
Dass ich hier nach rund 55 Kilometer meine Frau treffe, gibt mir jedoch Auftrieb. Wir plaudern eine Zeit lang, bevor ich den anstrengenden Anstieg zur Stadt Gampiglia d'Orcia in Angriff nehme. Der Turm Campanaria ist sehr präsent und beherrscht das Tal ähnlich imposant wie die Burg Rocca di Tentennano. Wider Erwarten erhole ich mich ein wenig, während ich das Gefälle hinunter nach Bagni San Filippo laufe. Die großartigen Fotomotive und auch den penetranten Schwefelgeruch kenne ich bereits von gestern.
Nun folgt ein rund 7 Kilometer langer Aufstieg zum höchsten Punkt des Laufes. Die Landschaft hat ein wenig vom Flair der Toskana verloren. Ich belaufe einen Mischwald und quäle mich auf gut 1000 Meter über den Meeresspiegel hoch. Die vorderen Oberschenkelmuskel raunzen, als es im Anschluss gleich wieder über 800 Höhenmeter hinunter ins Tal zu laufen gilt.
Auf welligem Terrain komme ich nicht mehr sonderlich schnell voran. Ich wandere mehr als dass ich laufe. Ich bin sauer auf mich und meine schlechte Vorbereitung am Vortag. Alkohol statt Wasser, Bruschetta statt einer sättigenden Pasta oder Pizza. Verflucht! Wie und vor allem wann werde ich heute die Ziellinie erreichen? Es raschelt im Gebüsch und ich meine, ein Grunzen gehört zu haben. Ein Wildschwein würde mir jetzt noch fehlen. In einem der zahlreichen Newsletter des Veranstalters wurde informiert, wie man sich im Falle einer Begegnung mit Wildschweinen zu verhalten hat. Der Hinweis war in italienischer Sprache verfasst und das Piktogramm war für mich nicht selbsterklärend. Hätte ich mir doch die Mühe gemacht und den Text übersetzt. Aber ich habe für´s erste Glück. Kein wildgewordener Vierbeiner macht Jagd auf mich. So trabe ich mit geschärften Sinnen weiter.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals so auf Sparflamme gelaufen zu sein. Mir fehlen noch rund 20 Kilometer ins Ziel, als ich unweit unseres Quartiers entlang gehe. Das kleine Teufelchen im Kopf rät mir, es einfach bleiben zu lassen. Ich solle doch die Startnummer abnehmen, mich beim Streckenposten abmelden und in die Unterkunft verschwinden. Pustekuchen! So verlockend auch manchmal diese Gedanken sind, nie und nimmer beende ich aus freien Stücken einen Lauf vor der Ziellinie.
Es folgt ein Abstieg, tief in den Wald. Ich marschiere an einem Maschendrahtzaun entlang. Plötzlich huscht an der anderen Seite des Zaunes ein Rudel Jagdhunde vorbei. Ich denke, dass das hier ein Trainingsgelände für die Vierbeiner ist.Im Schneckentempo geht es weiter vorwärts und die Dämmerung bricht herein. Ein paar Kilometer trennen mich noch von der Ziellinie. Vor mich türmt sich der Schlussanstieg wie eine senkrechte Wand auf. Diese finalen 300 Höhenmeter hinauf zur Rocca di Tentennano sind das Härteste, was ich bisher in meinem Ultratrail-Leben zu bewerkstelligen hatte. Nur noch mein eiserner, unbändiger Wille treibt mich an, Schritt für Schritt nach oben zu steigen.
Der Wind frischt auf und ich beginne am ganzen Körper zu frieren. Ich muss anhalten und mir die Windjacke aus der Laufweste holen. Ein paar Minuten habe ich es geschafft und laufe über die Ziellinie und in die Arme meiner Frau. Mit der offiziellen Zeit von 16 Stunden, 10 Minuten und 42 Sekunden klassiere ich mich auf dem 82. Rang der insgesamt 146 Finisher. Auch wenn ich auf der zweiten Streckenhälfte sehr schwer zu kämpfen hatte, wird mir die Tuscany Crossing sehr positiv in Erinnerung bleiben. Eine weitere Teilnahme auf der 100 Meilen langen Strecke schließe ich nicht aus.
Auch heuer begrüße ich das Wettkampfjahr standesgemäß mit dem Vulkanland-Frühlingslauf. Und der Frühlingslauf macht seinem Namen alle Ehre. Denn die Sonne lacht vom wolkenlosen Himmel und lässt die Temperaturen auf rund 15 Grad Celsius steigen.
Donnerstag, der 23. Juni 2022 - Mit der Landung auf dem Flughafen in San Francisco hat die Mission "WIR (meine Frau, mein Sohn und ich) RENNEN DEN WSER" so richtig Fahrt aufgenommen. Ich bin zwar derjenige mit der Startnummer, aber im Grunde ist es ein Familienprojekt, das in den kommenden Tagen zu einem glücklichen Ende gebracht werden soll. Jeder von uns hat in den letzten Jahren, Monaten und Tagen einen wertvollen Beitrag geleistet, damit mein sportlicher Lebenstraum in Erfüllung gehen kann.
Den Jetlag haben wir einigermaßen überwunden, da wir schon seit ein paar Tagen in den USA sind und bereits eine erste schöne Zeit bei den Schwiegereltern in der Nähe von Seattle verbracht haben.Für mich ist die Teilnahme am Western States 100 (kurz WSER) die Erfüllung meines sportlichen Lebenstraumes. Viele Jahre habe ich darauf hingearbeitet, eines Tages an der Startlinie des wohl geschichtsträchtigsten Langstreckenlaufes, dem Western States 100 Endurance Run, stehen zu dürfen. Jahr für Jahr erfüllte ich auf ultralangen Strecken wie beim mozart100 im Salzburger Land oder beim Morenic-Trail im Piemont die Qualifikationsnormen zum Eintritt in die Startplatzlotterien. Und dann war dieser 4. Dezember 2021, als tatsächlich mein Name auf Platz 9 der Warteliste gelost wurde. Am 16. April 2022 war es dann Gewissheit. Ich rückte von der Warteliste in das offizielle Starterfeld vor.
Nach einer rund 5stündigen Autofahrt kommen wir in Olympic Valley an. Korrekterweise wird Olympic Valley seit 2021 Palisades Tahoe genannt. Wir sind an einem Ort, an dem im Jahr 1960 die olympischen Winterspiele stattgefunden haben. Eine große imposante Holztafel mit den Flaggen der teilnehmenden Nationen, die olympischen Ringe und das noch immer lodernde olympische Feuer lassen die Erinnerung daran nicht verblassen. Olympic Valley bzw. Palisades Tahoe liegt auf rund 1900 Meter Seehöhe und ist von Bergriesen umgeben. Es ist ein imposanter Anblick zu beobachten, wie die Gondeln an dicken Stahlseilen steil nach oben gezogen werden.Wir beziehen unser Appartement unweit des Startbereichs und vertreten uns ein wenig die Beine. Aufgeregte, angespannte Teilnehmer und ihre Crews lassen erahnen, dass hier etwas sehr Spezielles bevorsteht. Erinnerungsfotos unter dem bereits installierten Start-Tor sowie vor einer überdimensionalen Holz-Gürtelschnalle vom Hauptsponsor HOKA werden gemacht. Immer wieder schweift mein Blick auf die umliegenden Granit-Riesen. Denn die ersten Meilen des WSER führen genau über einen dieser hohen Gipfel.
Ich schlafe unerwartet gut. Das ist auch wichtig, denn die kommende Nacht wird kurz. Wir holen uns einen Kaffee und gehen Richtung Olympic Plaza, dem Zentrum der Rennleitung. Auf dem Weg zur Race-Registration ist ein Plakat aufgelegt. Die Teilnehmer sind eingeladen, sich darauf mit der Unterschrift zu verewigen.
Als erstes registrieren wir unseren Sohn Sebastian offiziell als Pacer. Pacer sind Begleitläufer und dürfen ab Meile 62 (Checkpoint Foresthill) in Anspruch genommen werden. Außer man verlässt erst nach 20:00 Uhr den Checkpoint Michigan Bluff. Dann darf man sich bereits ab Michigan Bluff begleiten lassen. Grundsätzlich ist dafür ein Alter von zumindest 18 Jahren erforderlich, aber ich habe im Vorfeld bei der Rennleitung eine Ausnahme beantragt. Da mich Sebastian ohnehin nur den letzten Kilometer begleiten wird und ab dem Checkpoint Robie Point (1,2 Meilen vor dem Ziel) zudem die Begleitung durch mehr als einen Pacer erlaubt ist, war die Genehmigung reine Formsache und Sebastian darf stolz seine eigene offizielle Pacer-Nummer in Empfang nehmen.Ich schleppe zwei fertig gepackte Dropbags mit mir herum, die ich nun an den Sammelstellen für die Checkpoints Robinson Flat bzw. Rucky Chucky ablege. In Rucky Chucky wird der Middle Fork des American River gequert. Da ist man laut Informationen des Veranstalters zumindest knietief im Wasser. In das Dropbag für diesen Checkpoint habe ich daher ein Paar Schuhe und Socken, dazu noch einige Energie-Gels gepackt. Auch vor dem Checkpoint Robinson Flat kann man sich bei der Querung des Duncan Creek sowie beim Durchlaufen einiger Rinnsale die Füße nass machen. Daher sind auch in diesem Dropbag ein Paar Schuhe und Socken, dazu noch eine Sahara-Cap und ein paar Energie-Gels. Ob ich meine Schuhe und Socken tatsächlich wechsle, entscheide ich spontan. Details zur Ausrüstung und zum Inhalt meiner Dropbags können auch auf dieser [to do - Liste] nachgelesen werden.Nun folgt meine Registrierung als Läufer! Nach Vorlage eines Lichtbildausweises und der Unterzeichnung des Haftungsausschlusses wird mir die Startnummer 164 ausgefolgt. Dass ich die Startnummer 164 trage, ist kein Zufall. Im Vorfeld durfte man seine Wunschnummer bekannt geben, die dann nach Möglichkeit auch zugewiesen wurde. Warum ich gerade die Nummer 164 gewählt habe? Nicht nur, dass ich am 16. April von der Warteliste offiziell in das Hauptfeld gerutscht bin, feiert auch meine Frau an diesem Tag ihren Geburtstag. Es lag also auf der Hand, sich für diese Nummer zu entscheiden. Wir scherzen, dass jetzt noch ich die Zeit meines eigenen Geburtstages laufen müsse, was eine Laufzeit von 27 Stunden und 11 Minuten erforderlich macht. Im Grunde ist es nicht gänzlich abwegig, denn eine Zielankunft nach 25 bis 28 Stunden halte ich durchaus für realistisch.
Neben der Starnummer erhalte ich ein gelbes Band um das Handgelenk gebunden. Darauf stehen die persönlichen Daten wie Name, Herkunftsland und Startnummer. Dann wird mit der Startnummer das offizielle Teilnehmer-Foto gemacht und ich darf mir die Startgeschenke holen. Und die können sich wirklich sehen lassen. So gibt es einen WSER-gebrandeten Rucksack, ein Funktionsshirt, die Hoka Ora Recovery Slide ebenfalls im streng limitierten WSER-Design, einen Schlauchschal, hochwertige Nahrungsergänzungsmittel von GU Energy, einen faltbaren Trinkbecher, eine Gel-Softflask, eine lässige Sonnenbrille, Funktionssocken und das offizielle WSER-Heft samt WSER-Sticker mit allen wertvollen Informationen rund um das Rennen.Wir machen am späteren Nachmittag einen Abstecher zum nahegelegenen Lake Tahoe, um uns ein abzulenken. Das ist hier wirklich ein atemberaubend schöner Fleck Erde. Nebenbei hat es die Region um den Lake Tahoe in den letzten Wochen immer wieder mit Bärensichtungen in die Medien geschafft.
Am Abend richte ich mein Outfit zurecht und bestücke die Salomon-Laufweste. Auch die vorbereitete Zeittabelle bespreche ich mit meiner Frau. Wir planen nämlich, uns in Michigan Bluff (bei Meile 55) kurz zu sehen. Michigan Bluff ist neben Foresthill einer der wenigen Checkpoints, die halbwegs gut mit dem Fahrzeug erreichbar sind. Und für grobe Anhaltspunkte meiner Ankunftszeiten in den Checkpoints habe ich eben diese Zeittabelle unter Berücksichtigung der Höhenmeter und des Ermüdungsfaktors erstellt. Laut dieser Hochrechnung bin ich gegen 19 Uhr in Michigan Bluff. Eine Zielankunft ist nach dieser Zeitrechnung nach rund 27 Stunden vorgesehen. Natürlich gibt es dann noch den Faktor Unvorhergesehenes. Außerdem bietet der Veranstalter ein "live-timing" an. So können meine Frau bzw. Freunde und Bekannte online mitverfolgen, an welchen Checkpoints ich bereits eingecheckt habe.
Sofern es auf den Bergkämmen und später in den Canyons Mobilempfang gibt, ist auch eine telefonische Kommunikation oder per WhatsApp möglich. Bei unserer Ankunft in den USA haben wir uns jeweils eine Prepaid-SIM-Karte besorgt. Für insgesamt 100 Dollar haben wir nun befristet auf 30 Tage unlimitiertes Datenvolumen und landesinternes Gesprächsguthaben. Das Datenpaket eignet sich auch hervorragend zur Navigation mit z.B. Google Maps. Dadurch kann man sich beim Mietwagen die in der Regel sehr hohe Gebühr für das Navigationssystem sparen.